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Montag, 23.07.2012, 11:46:53

Orchids: My Intersex Adventure

Rezension

Bis vor Kurzem trug Phoebe Hart ein gut gehütetes Geheimnis mit sich. Doch nun hat sie etwas mitzuteilen: Obwohl ihr Körper als weiblich wahrgenommen wird, trägt sie männliche Chromosomen in sich – Phoebe hat das Androgen Insensitivity Syndrome (AIS). Ein Syndrom, das mit einer statistischen Häufigkeit von 1:20.000 auftritt; ein Syndrom, über das in Phoebes Familie nicht gesprochen wurde; und ein Syndrom, das nach Meinung der ÄrztInnen, die Phoebe konsultiert, ein so großes Stigma bedeutet, dass sich keine/-r der Betroffenen outen möchte. Doch Phoebe ist fest dazu entschlossen, endlich Klarheit darüber zu erlangen, wer sie »wirklich ist«. Dazu bedarf es klärender und identitätsstiftender Gespräche mit der Familie, mit FreundInnen und mit anderen Menschen mit AIS, die übrigens gar nicht so selten sind, wie uns die Statistik glauben machen will. Innerhalb von Sekunden findet Phoebe im Internet so viele Geschichten über AIS, das ein Verhältnis von 1:20.000 nicht mehr so fern und abstrakt wirkt, sondern ganz konkret wird.

Um diese Geschichten geht es Phoebe Harts Dokumentarfilm Orchids: My Intersex Adventure. Als dokumentarisches Roadmovie inszeniert, korrespondiert dieser Film perfekt mit seinem Thema. Denn so wie das Roadmovie die Reise zwischen verschiedenen Orten erzählt, so befinden sich Menschen mit AIS immer zwischen den hegemonialen Geschlechterrollen von Frau und Mann. Egal, ob sie sich nun an eine dieser beiden Rollen annähern, oder sich ihnen verweigern. So begeben sich Phoebe und ihre Schwester Bonnie auf die Identitätssuche im Dazwischen. Zwischen den Geschlechtern und zwischen Brisbane, Melbourne, Sydney, Perth und Townsville. Hier treffen sie Menschen mit AIS, die sich mal in die eine, mal in die andere Richtung einer »normalen« Geschlechterrolle annähern, ohne sie jemals vollständig zu erreichen. Einige von ihnen wurden als Mädchen geboren und unterzogen sich später einer Testosteronbehandlung. Andere wuchsen als Junge auf, bis ihnen aufgrund eines erhöhten Hodenkrebsrisikos, das AIS mit sich bringt, die unterentwickelten Hoden operativ entfernt wurden und sie von diesem Zeitpunkt an medizinische Gerätschaften in sich trugen, die ihre Vagina dehnen sollten, um, wenn schon keine Kinder, so doch wenigstens ein erfülltes Sexualleben haben zu können.

Durch diese vielen anderen Geschichten ermutigt, erzählt Phoebe auch ihre eigene. Sie erzählt, untermalt von altem Video- und Fotomaterial, wie es war, als sie in ihrer Pubertät herausfand, dass sie im Gegensatz zu ihren Freundinnen in der Schule keine Periode bekam, weil sie keinen Uterus hat. Brüste wachsen ihr erst viel später. Phoebe fühlt sich »falsch«, als »Freak«, sie verliert das Interesse an der Schule und an ihren FreundInnen. Ein Welt- und Selbsthass breitet sich in ihr aus, was durch die Auffassung ihrer Mutter, dass man über AIS besser nicht reden sollte, noch verstärkt wird.

Mit Orchids: My Intersex Adventure gelingt es Produzentin und Regisseurin Phoebe Hart zu zeigen, welch große Kraft Geschichten haben, wie sie dabei helfen, zur Bewältigung traumatischer Erfahrung beizutragen. Dies gelingt hier vor allem durch die Gemeinschaft, die die Geschichten stiften. Phoebe fühlt sich nicht mehr allein gelassen, sondern sie sieht, dass es noch andere Menschen gibt, die sehr ähnliche und sehr essentielle Erfahrungen, wie Wut, Angst und Verwirrung mit ihr teilen. Menschen, die nicht in die Körpernormen passen und sich fragen, was ein »normaler« Körper überhaupt sein soll. Menschen, die aber trotz allem auch Ermutigendes miteinander teilen wie beispielsweise die Erfahrung, dass mit der richtigen Partnerin oder dem richtigen Partner, in Phoebes Fall mit ihrem Ehemann James, vieles gelingt, was man alleine niemals geschafft hätte. Harts Film betont immer wieder, dass es keine Lösung ist, anonym in der »normalen« Masse zu verschwinden, sondern dass es viel spannender ist, aus ihr herauszuragen, weil zu leben nun einmal bedeutet, sich aufs Spiel zu setzen.

Phoebe setzt sich auch mit ihrem Film aufs Spiel, vor allem, was ihre Eltern betrifft. Denn die begegnen ihr anfangs sehr ablehnend und wollen nicht an ihrem Projekt teilnehmen. Mit der Zeit jedoch verstehen sie den Sinn des Filmprojektes und schildern aus ihrer Perspektive, wie es damals war, mit AIS konfrontiert zu sein und die richtigen Entscheidungen treffen zu müssen mit nur wenigen medizinischen Informationen in der Hand und mit einer Mauer des Schweigens in der Gesellschaft konfrontiert, die jedweden Austausch über das Thema unmöglich machte. Und auch heute stellt sich die Situation nicht grundsätzlich anders dar: Immer noch ist AIS ein Stigma, das im Zeitalter pränataler Tests, die das Leben schon vor der Geburt vermessen, bewerten und normalisieren, der Grund dafür sein kann, sich gegen ein Kind zu entscheiden.

Für Phoebe hat es sich gelohnt, das Wagnis dieses Films einzugehen, der mit der Adoption eines Kindes sehr versöhnlich endet. Phoebe hat ihre Geschichte erzählt und hierdurch eine nicht nur lebbare, sondern, so scheint es, auch lebenswerte Identität gefunden. Sie ist im Reinen mit sich und ihrer Familie, so dass sie nun selbst eine starke Mutter sein kann. Gleichzeitig zeigt der Film, dass AIS nicht so weit weg ist, wie es die Normalisierungsdiskurse schildern. Denn durch das gemeinsame Filmprojekt erfährt Phoebe, dass auch ihre Schwester und Kamerafrau Bonnie AIS »hat«.

Orchids: My Intersex Adventure ist eine gelungene Produktion, die Mut macht, andere Geschichten als die zu erzählen, die die »Normalität« so gerne hört. Hier geht der Film mit gutem Beispiel voran, indem er viele Stimmen zu Wort kommen lässt, die sich, ob selbst betroffen oder nicht, alle in irgendeiner Weise mit AIS auseinandersetzen. Damit zeigt er auch, wie wichtig eine starke Gemeinschaft für die Heranbildung einer starken persönlichen Identität ist. Darüber hinaus tut es gut, dass bei aller Ernsthaftigkeit des Themas kein pathetischer oder einseitig anklagender Ton angeschlagen wird. Allerdings hinterlässt der Film auch einen unbefriedigenden Eindruck, weil Phoebes Geschichte seine zentrale Erzählung ist. Dass dies so ist, ist sehr gut nachvollziehbar, denn schließlich lässt Phoebe Hart, die sich als Frau versteht, von Beginn an keinen Zweifel daran, dass ihr Film für sie vor allem eine Aufgabe hat, nämlich mit sich selbst darüber ins Reine zu kommen, wer sie »wirklich ist«. In dieser Hinsicht ist die Integration in eine bürgerliche Gesellschaft, deren Funktionieren wesentlich auf reproduktiver Heterosexualität basiert, hilfreich und der zu respektierende Wunsch nach Integration soll hier auch in keiner Weise diskreditiert werden. Dennoch wäre es spannend gewesen, auch den anderen Geschichten mehr Raum zu geben. In der Kürze, in der sie im Film erzählt werden, lassen sie vermuten, dass es hierbei um andere Lebensentwürfe geht. Doch leider bleibt es aufgrund der Kürze bei der bloßen Vermutung. Phoebes Schwester Bonnie beispielsweise ist Performancekünstlerin, in deren Schaffen Intersexualität und die Kritik an der Normalisierung eine zentrale Rolle spielen. Doch welches Leben sie lebt, erfahren wir kaum.

So limitiert sich Orchids: My Intersex Adventure durch die Frage, wer man »wirklich ist« und tendiert stellenweise dazu, AIS wie eine Krankheit, die man »hat«, darzustellen. Daraus ergibt sich als scheinbar einzig gangbare Lösung der Weg hinaus aus der »Pathologie« hinein in die »Normalität«, also von einem Ist-Zustand in den nächsten. Dass das Leben, ob mit AIS oder ohne, auch als kontinuierliches Werden im Dazwischen begriffen werden kann, wird höchstens angedeutet. Eine konsequente Kritik an der Macht der Geschlechternormen, die die Grenzen des Menschlichen aufzeigt und übersteigt, muss sich aber die Frage stellen, wer ich hier bin und wer ich da bin und wer ich dort bin – und wer ich noch werden werde. Dennoch und deshalb ist Orchids: My Intersex Adventure ein wichtiger Beitrag zu diesem kritischen Projekt.

Orchids: My Intersex Adventure, Australien 2010, Regie und Produktion: Phoebe Hart, Verleih: hartflicker Moving Pictures.

von senest | permalink