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Samstag, 14.01.2012, 18:22:34

Runder Tritt und großes Blatt

Die radikale Unbrauchbarkeit des Autos in der Stadt ist, mit Gilles Deleuze und Félix Guattari (1977: 513 f.) betrachtet, nur ein Ausdruck der vielen Probleme von Gesellschaften, die durch Spezialisierung und Monopolisierung geprägt sind. Dabei sind Spezialisierung und Monopolisierung durchaus nicht immer eine technische Notwendigkeit. Oft sind sie »lediglich« Ausdruck derjenigen ökonomischen und politischen Imperative, die auf die Konzentration der Macht in den Händen der herrschenden Klasse abzielen. Es lassen sich durchaus andere Gesellschaften denken, in denen das Recht zur Benutzung der Produktionsmittel nicht das exklusive Recht der herrschenden Klasse ist, sondern das eines jeden Individuums. Hier wird durch die größtmögliche Anzahl von Menschen extensiver Gebrauch von kleinen Maschinen gemacht, für die nur wenig Spezialwissen vonnöten ist. Ein naheliegendes Fortbewegungsparadigma einer anderen Gesellschaft, das nicht den nostalgischen Traum einer Rückkehr zur Natur träumt, sondern wirklich fortschrittlich ist, wäre in diesem Sinne das Fahrrad (vgl. ebd.).

Langsam beginnt diese Erkenntnis auch in die Verkehrspolitik durchzusickern. In vorbildlicher, weil unterhaltsamer und nicht moralisierender Weise, hat sich die Bezirksverwaltung des Londoner Stadtteils Royal Borough of Kensington & Chelsea der Sache angenommen und nennt auf der Website BIKEMINDED nicht nur eine ganze Reihe guter Gründe für das Verkehrsmittel Fahrrad, sondern stellt auch eine buntgemischte Plattform rund um das Thema bereit. In noch größerem Umfang widmet sich road.cc der Sache. Die »website for pedal powered people«, sowohl 2010 als auch 2011 auf den BikeBiz Awards zu Großbritanniens Fahrrad-Website Nr. 1 gewählt, wartet täglich aktualisiert mit allem auf, was mit zwei Rädern und Muskelkraft zu tun hat, egal ob es sich dabei um Rennsport, Berufspendeln, Freizeit etc. handelt. Neben aktuellen Nachrichten aus der Welt des Fahrrads, gehören auch fundierte und praxisnahe Produkttest, Blogs, Diskussionsforen u.v.a.m. zu Angebot. Warum eigentlich findet sich im deutschsprachigen Raum kein Äquivalent hierzu?

Wenig fortschrittlich muten allerdings gefühlte 90 Prozent der aktuellen Fahrradbekleidung an. Hier dominieren immer noch ganz nach Art der 1980er und 1990er stilistische Aufdringlich- und Beliebigkeiten in meist grell schreiender Neonästhetik und Spandex. Zum Glück gibt es Ausnahmen von der Regel. Eine besonders erwähnenswerte ist Rapha, ein Radbekleidungshersteller, der mit seinen Produktlinien nicht nur ambitionierte RennradfahrerInnen im Blick hat, sondern auch die Zielgruppe der StadtcyclistInnen mit schlichten und eleganten, aber dennoch auch im sportlichen Einsatz höchst tauglichen Stücken anspricht. Zusätzlich wird eine alternative Fahrradkultur vermittelt, die ihren Schwerpunkt nicht auf der im Mainstream so gefragten Jagd nach Höchstleistungen hat, sondern sich zu großen Teilen um (Lebens-)Stilfragen kümmert. Gut vernetzt ist man bei Rapha auch, so dass deren Blog einen guten Start in die virtuelle Welt des Fahrrads bietet. Zugegeben, die Preise bewegen sich hier im oberen Bereich. Aber mehrmals im Jahr gibt es Ausverkäufe und wer sich ein BenutzerInnenkonto einrichtet und den Newsletter abonniert, bekommt öfters Aktionscodes zugeschickt, mit denen man sich die Versandkosten spart oder ein paar Extraprozente bekommt. Günstigere, aber nichtsdestoweniger hochwertige Alternativen, vor allem was das Fahren in der Stadt betrifft, bietet surface clothing, wenn auch deren Produktpalette bei weitem nicht den Umfang derer Raphas hat. Doch die Quantität braucht es nicht unbedingt, wenn das, was angeboten wird, den Nerv trifft. Ich persönlich bin höchst glücklich mit dem Aquaphobic Wool Jacket. Ganz dem stylischen Fahren in der Stadt hat sich auch swrve verschrieben. Viel Spaß beim Stöbern!

Es mag ein wenig verwundern, dass sich zu diesem Thema so viel auf der Insel tut, wo der Radsport dort im Vergleich mit Belgien, Frankreich oder Italien es nie wirklich geschafft hat, ein Breitensport zu werden. Daher ist es noch seltsamer, dass sich mit Blick auf stilistisch ansprechende Radoutfits auf dem Kontinent so wenig bewegt. Dennoch lässt das, was sich hier tut, hoffen: Café du Cycliste steht beispielsweise an, es Rapha gleich- bzw. ähnlichzutun, denn das, was hier bereits an Kollektionen erhältlich ist, zeichnet sich durch einen sehr französischen Chic aus, den man auch im auf die Stadt spezialisierten Programm von XÜ ride findet. Italienisch smart gibt sich in der Stadt und Überland Pistard im preislich mittleren bis gehobenen Sektor. Und wie es sich für Italien nun einmal gehört, findet man in diesem Land auch die passenden Schuhe: Dromarti bietet mit den Linien Race, Sportivo und Storica umwerfend schöne Lederschuhe im Design der 1960er, die zudem noch, das Storica-Modell ausgenommen, kompatibel mit dem Look- und dem SPD-System sind. Über Preise reden wir allerdings besser nicht.

Auch im Fahrradbau tut sich etwas abseits von den großen HerstellerInnen, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, da deren Werbebudget groß genug ist, um für sich selbst zu sprechen. Anders sieht das bei Elian Cycles aus, einer winzigen niederländischen Manufaktur, die kleine Serien und Maßgefertigtes anbietet. Ganz in der niederländischen Tradition robuster und praktischer Fahrräder stehend, beweist man bei Elian Cycles aber auch Sinn für Innovationen und zeigt, dass sich praktischer Nutzen und eine minimalistisch-geradlinige Ästhetik mit Liebe fürs Detail nicht gegenseitig ausschließen müssen. Elian Veltman baut in jeder Hinsicht smarte Räder.

Für die sportlich ambitionierte Singlespeed- und Fixed-Fraktion lohnt es sich, bei Leader Bike hineinzusehen. Hier gibt es interessante Rahmen aus Aluminium und Stahl für den Einsatz auf der Straße, der Bahn und im Gelände. Sogar einen Rennradrahmen aus Carbon hat man im Programm, das durch verschiedene Gabeln, Lenker, Sättel, Naben, Sattelstützen und Kurbeln ergänzt wird. Auch die Mailänder Rahmenschmiede Dodici Cicli, die den originellen Rahmen Special herstellt, sei erwähnt. Nicht vergessen werden darf selbstverständlich die deutsche Manufaktur veloheld, die sich ausgehend von ihrem stets nur in limitierter Stückzahl erhältlichen Klassiker alley mittlerweile auch im MTB- und Rennradbereich mit der Maxime »schnell, wendig und pur« einen Namen macht und ausschließlich Stahl verbaut. Wer übrigens ausschließlich auf Stahl schwört, der/dem sei hier der Blog Stahlrahmen-Bikes wärmstens empfohlen. Dieses Thema ist einfach zu umfangreich, als dass es in diesem Artikel angemessen behandelt werden kann. Wer allerdings nicht nachvollziehen kann, worin der Reiz eines Stahlrahmens liest, die/der lese Robert Penns (2010) It’s All About the Bike.

Überhaupt ist es hier nur möglich, einen kleinen Einblick in das zu geben, was sich zum Thema Fahrrad im Netz tut – und es tut sich viel! Der Blog Prolly Is Not Probably lässt erahnen, wie vielseitig alternative Fahrradkulturen abseits des Mainstreams sind, ganz gleich, ob es sich dabei um Rennrad, Fixed, MTB, BMX oder was auch immer handelt. John Watson, der Betreiber des Blogs, versammelt hier »bikes, music, design and bullshit« und macht auch schöne Fotos zum Thema, die man unter The Norse Photo bewundern kann. Ein ähnliches Projekt verfolgen die Mädels von Candy Cranks und zeigen damit, dass das Fahrrad keine ausschließlich männliche Domäne ist. Dass Radsport auch anders aussehen kann, als vom Weltradsportverband UCI vorgeschrieben, zeigt das Red Hook Criterium am 24. März 2012 bereits zum fünften Mal. Das von Dave Trimble und Gage+DeSoto organisierte nächtliche Kriterium, bei dem nur Bahnräder zugelassen sind, verspricht wieder einmal ein atemberaubendes Kräftemessen der internationalen Radkurierszene zu werden. Sowieso ist es äußerst spannend zu sehen, was man mit einem Fixedgear so alles anstellen kann, wenn man die Bahn mal verlässt. So lassen sich der Mont Ventoux wie auch die Strecke Stuttgart – BarcelonaTokio – Osaka oder die Fjordgegend rund um Oslo durchaus mit nur einem Gang bezwingen.

Ob der Fortschritt hätte haltmachen sollen, als der Mensch das Fahrrad erfunden hatte (vgl. West 1977), ist fraglich. Sicher aber ist, dass das Fahrrad nicht nur ein fortschrittliches Verkehrsmittel ist, sondern auch eine Menge Spaß bringt. In diesem Sinne: Happy riding!

Quellen:
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Penn, Robert (2010): It’s All About the Bike. The Pursuit of Happiness on Two Wheels, London: Particular Books.
West, Elizabeth (1977): Hovel in the Hills. An Account of the Simple Life, London: Faber & Faber.

von senest | permalink